MIGRATIONDie guten, bösen Einwanderer
Einwanderung ist teuer, erhöht die Kriminalität und gefährdet den Zusammenhalt der Gesellschaft. Wir haben fünf Thesen zur Einwanderung auf den Wahrheitsgehalt überprüft.
Mythos 1: Einwanderer sind teuer. Weil immer mehr Menschen in die Sozialsysteme einwandern, müssen alle Bürger zahlen.
Die letzte verlässliche Erhebung zu der Frage, was Zuwanderung kostet, stammt aus dem Jahr 2009. Damals erhielten in Deutschland 32 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund steuerfinanzierte Transferleistungen – also zum Beispiel Arbeitslosengeld II, Wohngeld oder Kindergeld. Unter den Einheimischen lag der Anteil bei 20 Prozent, also deutlich niedriger.
Ein Grund: Die Arbeitslosenquote unter Menschen mit Migrationshintergrund ist noch doppelt so hoch wie bei den in Deutschland geborenen. Der Staat muss also in vielen Fällen mehr Arbeitslosengeld zahlen. Allerdings haben weit weniger Menschen Anspruch auf Sozialtransfers, als oft behauptet wird. Ein EU-Bürger bekommt etwa nur dann Arbeitslosengeld, wenn er bereits drei Monate Vollzeit in Deutschland gearbeitet hat. Dennoch scheint zumindest die These zu stimmen, dass Einwanderung für den deutschen Staat ein Negativgeschäft ist.
Das aber ist zu kurz gedacht. Das zeigt sich, wenn man sich alle Zahlungen anschaut, die nicht über Steuern finanziert werden – die Rente etwa. Im Jahr 2009 erhielten 29 Prozent der Einheimischen Transfers, die über Beiträge finanziert werden. Unter den Migranten lag der Anteil nur bei 13 Prozent. Die Eingewanderten belasten die Rentenkasse also weniger als die Einheimischen, zahlen dafür aber Beiträge ein und stabilisieren damit das System. Der Grund ist simpel: Einwanderer sind oft jünger als die einheimische Bevölkerung. Viele verlassen das Land nach einer kurzen Zeit wieder, ohne im Alter Rente zu beziehen. Außerdem bringen die neuen Zuwanderer viel Wissen mit: 43 Prozent der Einwanderer hatten zuletzt einen Hochschul-, Meister- oder Technikerabschluss, verglichen mit 25 Prozent bei den schon hier Lebenden. Die Einwanderer heben also das Bildungsniveau.
Wie sieht die Bilanz unter dem Strich aus? Der Nürnberger Migrationsforscher Herbert Brücker hat beide Seiten der Rechnung vor wenigen Monaten gegeneinander gestellt. Er kommt zu dem Schluss, dass die Bilanz für den deutschen Staat positiv ist, ähnlich wie der Sozialforscher Holger Bonin bereits im Jahr 2000. Auch die Industrieländervereinigung OECD kam zuletzt zu dem Ergebnis, dass die neuen Zuwanderer dem deutschen Staat mehr nützen als sie ihn kosten. Die These von der teuren Einwanderung ist also ein Mythos.
Von Christian Endt
Mythos 2: Der Fachkräftemangel ist selbst ein Mythos. Die Wirtschaft braucht die Einwanderer nur, um die Löhne niedrig zu halten.
Eine populäre Behauptung – und sie ist falsch. Zwar stimmt es, dass ein Mangel an Fachleuten bisher nur in wenigen Branchen spürbar ist. Auch der Ingenieurs-Notstand fällt wohl nicht ganz so dramatisch aus, wie die Lobbyisten oft behauptet haben. Fachkräftemangel – das heißt eben nicht, dass einer Volkswirtschaft ein paar Leute fehlen. Das Problem ist komplexer: Weil mehr Alte in Rente gehen, als Junge auf den Arbeitsmarkt nachrücken, sinkt die Zahl der potenziellen Arbeitnehmer in Deutschland in den kommenden Jahren schneller und schneller.
Wenn aber die Zahl aller sinkt, die arbeiten können, fällt auch die Zahl der gezahlten Gehälter und der Sozialleistungen, mit denen die Rente der älteren Generation bezahlt wird. Wo keine Arbeiter sind, braucht es auch keine Maschinen und Investitionen. Am Ende leidet das Wachstum, oder noch schlimmer: Die Wirtschaft schrumpft, sie passt sich dem neuen Status Quo an.
Wie lässt sich das verhindern? Etwa indem mehr Frauen einer Vollzeitarbeit nachgehen und Langzeitarbeitslose wieder ins System integriert werden. Das geschieht, aber es reicht nicht. Mindestens 200.000 Menschen müssten langfristig unter dem Strich nach Deutschland einwandern, schätzen Migrationsforscher, damit die Menge der potenziellen Arbeitnehmer in den kommenden Jahren ungefähr gleich bleibt. Eher unwahrscheinlich, dass das jedes Jahr gelingt. Mag also sein, dass die Löhne – vor allem für junge, gut Qualifizierte – steigen werden, statt zu sinken. Das würde aber dem Dumping-Argument der Kritiker widersprechen.
Von Philip Faigle
Mythos 3: Wenn noch mehr Einwanderer nach Deutschland kommen, sind die Christen bald in der Minderheit. Dabei bereiten uns Muslime jetzt schon Probleme.
Was stimmt: Die Zahl der Muslime ist seit 1970 stark gestiegen. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung in Deutschland hat sich bis zum vergangenen Jahr fast vervierfacht. Dennoch leben heute laut Deutscher Islamkonferenz nur rund fünf Prozent Muslime in Deutschland. Selbst Bremen, das am meisten Muslime beherbergt (zehn Prozent), ist weit davon entfernt, mehrheitlich muslimisch zu werden.
Das Research Center's Forum on Religion & Public Life schätzt, dass sich der Anteil der Muslime in Deutschland in Zukunft leicht erhöhen wird – bis 2030 auf etwa sieben Prozent.
Das ist sehr hoch gegriffen. In den fünf Prozent enthalten sind nur die Menschen, die aus einem muslimischen Kulturkreis eingewandert sind. Gläubige Muslime sind nicht in Kirchen organisiert wie Christen und lassen sich deshalb schlechter zählen. Die Forschungsgruppe Weltanschauungen schätzt, dass höchstens 50 Prozent der offiziell gezählten Muslime wirklich gläubig sind.
Ein anderer Umstand könnte allerdings dazu führen, dass Christen in die Minderheit geraten: Die Zahl der Nichtgläubigen steigt. Während 1970 knapp vier Prozent der Deutschen ohne Konfession lebten, sind es heute je nach Schätzung zwischen 33 und 37 Prozent. Tendenz steigend. Beeinflussen könnten das wiederum nur mehr Zuwanderer. Denn die größte Gruppe der neuen Zuwanderer sind meistens Christen aus Mittel- und Osteuropa, allen voran katholische Polen. Wegen der Krise wandern viele Südeuropäer ein, auch wenn nicht klar ist, wie lange sie bleiben. Auch sie sind oft katholisch.
Von Parvin Sadigh
Mythos 4: Zuwanderer begehen mehr Verbrechen. Es wird unsicherer im Land, wenn mehr Menschen kommen.
Eine populäre Lesart der Kriminalstatistik aus dem Jahr 2012 geht so: Jeder vierte Tatverdächtige in Deutschland hat keinen deutschen Pass, obwohl der Anteil der Ausländer an der deutschen Bevölkerung lediglich bei neun Prozent liegt. Stimmt es also nicht, wenn behauptet wird, dass Ausländer mehr Verbrechen begehen als Einheimische?
Was die Statistik jedoch nicht sagt: Fast die Hälfte der Menschen mit Migrationshintergrund hat einen deutschen Pass – diese Menschen tauchen also in der Statistik als Deutsche auf. Gleichzeitig aber werden auch jene als Ausländer gezählt, die in Deutschland ein Verbrechen begehen, ohne hier zu wohnen: Touristen zum Beispiel, Geschäftsleute oder Menschen auf der Durchreise. Zu dieser Bevölkerungsgruppe zählen vor allem Mitglieder von kriminell organisierten Banden. Sie begehen Schätzungen zufolge rund ein Viertel bis ein Drittel aller von Ausländern begangenen Straftaten. Zudem gilt auch als ausländischer Straftäter, wer seine Tat vom Ausland aus begeht – etwa ein Cyberverbrechen über einen Computer.
Wichtig ist auch ein Blick auf die Art der Verbrechen: Ob Ladendiebstahl, Mord, illegale Einreise oder Terroranschlag – in der Statistik stehen sie alle gleichrangig nebeneinander. Viele Straftaten – etwa gegen das Aufenthaltsgesetz oder das Asylverfahrensgesetz – können Einheimische aber gar nicht begehen. Oft werden außerdem nicht die Verurteilten, sondern nur die Tatverdächtigen gezählt. Somit könnte eine Erklärung für die höhere Zahl auch sein, dass Ausländer eher verdächtigt werden als Deutsche.
Von Nicole Sagener
Mythos 5: Es gibt genug Parallelgesellschaften in deutschen Städten. Kommen mehr Einwanderer, ist der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet.
Jeder kennt die Straßenzüge in Berlin-Neukölln, Hamburg-Wilhelmsburg oder Duisburg-Marxloh: Straßen, in denen alle Läden türkisch sind und Frauen mit Kopftuch herumlaufen. Diese Bilder werden oft mit der Vorstellung verknüpft, hinter den Wohnungs- und Moscheetüren habe sich eine autonome fremde Gesellschaft gebildet, die ihren eigenen Regeln folgt.
Der Historiker Jochen Oltmer findet jedoch schon das Wort falsch. Parallelgesellschaft sei ein Kampfbegriff, sagt er. Meist seien damit nur türkische-muslimische Communitys gemeint. Die Elite, die in Dahlem oder Blankenese unter sich bleibt und deren Mitglieder sich gegenseitig Vorteile verschaffen, wird nicht so bezeichnet. Freiwillig ist die Konzentration der ungebildeten, armen Einwanderer in bestimmten Stadtteilen ohnehin nur bedingt. Sie brauchen bezahlbare Wohnungen. Und natürlich leben nicht nur Türken und Muslime in Neukölln. Eigene Schiedsgerichte oder Schulen gibt es sehr selten. Die meisten türkischstämmigen Einwanderer nutzen die deutschen Institutionen und arbeiten in deutschen Firmen.
Tatsächlich aber nutzen Einwanderer soziale oder ethnische Netzwerke, denn es nützt ihnen. Der Politikwissenschaftler Thomas Meyer spricht von einer "hilfreichen Schleusenfunktion". Bereits hier lebende Verwandte oder Freunde erklären, zu welcher Behörde die neu Eingewanderten gehen müssen, wie man eine Wohnung findet. Sie sprechen die gleiche Sprache und sorgen für ein wenig Geborgenheit in der Fremde. Oltmer sagt, diese Netzwerke seien charakteristisch für Migration, sogar verantwortlich für ihr Ausmaß. Man denke an Kolonien in New York wie Little Italy, Little Germany oder China Town.
Nur wenn das Netz sehr groß ist, die Einwanderer einheitlich aus einer ungebildeten armen Schicht kommen und sie sich von der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert fühlen, kann das für sie zur Falle werden, sagt Meyer. Die neuen Migranten lernen nicht Deutsch, können ihren Kindern in der Schule nicht helfen, sie konsumieren nur türkischsprachige Medien. Eine Spirale entsteht, die die Einwanderer am Aufstieg und an der Integration in die Mehrheitsgesellschaft hindert. Wer arbeitslos ist, verkehrt nur noch mit Arbeitslosen, der Hilfsarbeiter mit Hilfsarbeitern.
Besteht also die Gefahr, dass sich neue Kolonien bilden? Neue Einwanderer in Deutschland kommen zu 60 Prozent aus europäischen Ländern. Polen, Rumänen und Bulgaren nutzen natürlich ihre Netzwerke. Spanische Studenten ziehen in eine WG mit befreundeten Spaniern. Doch diese Netze werden sich nicht zu sogenannten Parallelgesellschaften verfestigen. Die meisten der aktuellen Einwanderer sind gebildet – und "je höher der Bildungsgrad, desto größer ist die Tendenz, dass sich Kolonien wieder auflösen", sagt Oltmer. Auch die Gefahr, dass sich sogenannte Parallelgesellschaften von ungebildeten Bulgaren und Rumänen bilden, sei nicht sehr groß. Viele der Einwanderer bleiben nicht lange in Deutschland, sagt Oltmer, und sie sind zu wenige, um eigene Kolonien zu bilden.
Von Parvin Sadigh