• Eine Frau lernt in einem speziell für Migrantinnen konzipierten Kurs in München das Radfahren.
    Eine Frau lernt in einem speziell für Migrantinnen konzipierten Kurs in München das Radfahren.

    MIGRATIONDie guten, bösen Einwanderer

    Einwanderung ist teuer, erhöht die Kriminalität und gefährdet den Zusammenhalt der Gesellschaft. Wir haben fünf Thesen zur Einwanderung auf den Wahrheitsgehalt überprüft.
    Mythos 1: Einwanderer sind teuer. Weil immer mehr Menschen in die Sozialsysteme einwandern, müssen alle Bürger zahlen.
    Die letzte verlässliche Erhebung zu der Frage, was Zuwanderung kostet, stammt aus dem Jahr 2009. Damals erhielten in Deutschland 32 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund steuerfinanzierte Transferleistungen – also zum Beispiel Arbeitslosengeld II, Wohngeld oder Kindergeld. Unter den Einheimischen lag der Anteil bei 20 Prozent, also deutlich niedriger.
    Ein Grund: Die Arbeitslosenquote unter Menschen mit Migrationshintergrund ist noch doppelt so hoch wie bei den in Deutschland geborenen. Der Staat muss also in vielen Fällen mehr Arbeitslosengeld zahlen. Allerdings haben weit weniger Menschen Anspruch auf Sozialtransfers, als oft behauptet wird. Ein EU-Bürger bekommt etwa nur dann Arbeitslosengeld, wenn er bereits drei Monate Vollzeit in Deutschland gearbeitet hat. Dennoch scheint zumindest die These zu stimmen, dass Einwanderung für den deutschen Staat ein Negativgeschäft ist.     
    Das aber ist zu kurz gedacht. Das zeigt sich, wenn man sich alle Zahlungen anschaut, die nicht über Steuern finanziert werden – die Rente etwa. Im Jahr 2009 erhielten 29 Prozent der Einheimischen Transfers, die über Beiträge finanziert werden. Unter den Migranten lag der Anteil nur bei 13 Prozent. Die Eingewanderten belasten die Rentenkasse also weniger als die Einheimischen, zahlen dafür aber Beiträge ein und stabilisieren damit das System. Der Grund ist simpel: Einwanderer sind oft jünger als die einheimische Bevölkerung. Viele verlassen das Land nach einer kurzen Zeit wieder, ohne im Alter Rente zu beziehen. Außerdem bringen die neuen Zuwanderer viel Wissen mit: 43 Prozent der Einwanderer hatten zuletzt einen Hochschul-, Meister- oder Technikerabschluss, verglichen mit 25 Prozent bei den schon hier Lebenden. Die Einwanderer heben also das Bildungsniveau.
    Wie sieht die Bilanz unter dem Strich aus? Der Nürnberger Migrationsforscher Herbert Brücker hat beide Seiten der Rechnung vor wenigen Monaten gegeneinander gestellt. Er kommt zu dem Schluss, dass die Bilanz für den deutschen Staat positiv ist, ähnlich wie der Sozialforscher Holger Bonin bereits im Jahr 2000. Auch die Industrieländervereinigung OECD kam zuletzt zu dem Ergebnis, dass die neuen Zuwanderer dem deutschen Staat mehr nützen als sie ihn kosten. Die These von der teuren Einwanderung ist also ein Mythos.
    Von Christian Endt
    Mythos 2: Der Fachkräftemangel ist selbst ein Mythos. Die Wirtschaft braucht die Einwanderer nur, um die Löhne niedrig zu halten.
    Eine populäre Behauptung – und sie ist falsch. Zwar stimmt es, dass ein Mangel an Fachleuten bisher nur in wenigen Branchen spürbar ist. Auch der Ingenieurs-Notstand fällt wohl nicht ganz so dramatisch aus, wie die Lobbyisten oft behauptet haben. Fachkräftemangel – das heißt eben nicht, dass einer Volkswirtschaft ein paar Leute fehlen. Das Problem ist komplexer: Weil mehr Alte in Rente gehen, als Junge auf den Arbeitsmarkt nachrücken, sinkt die Zahl der potenziellen Arbeitnehmer in Deutschland in den kommenden Jahren schneller und schneller.
    Wenn aber die Zahl aller sinkt, die arbeiten können, fällt auch die Zahl der gezahlten Gehälter und der Sozialleistungen, mit denen die Rente der älteren Generation bezahlt wird. Wo keine Arbeiter sind, braucht es auch keine Maschinen und Investitionen. Am Ende leidet das Wachstum, oder noch schlimmer: Die Wirtschaft schrumpft, sie passt sich dem neuen Status Quo an.
    Wie lässt sich das verhindern? Etwa indem mehr Frauen einer Vollzeitarbeit nachgehen und Langzeitarbeitslose wieder ins System integriert werden. Das geschieht, aber es reicht nicht. Mindestens 200.000 Menschen müssten langfristig unter dem Strich nach Deutschland einwandern, schätzen Migrationsforscher, damit die Menge der potenziellen Arbeitnehmer in den kommenden Jahren ungefähr gleich bleibt. Eher unwahrscheinlich, dass das jedes Jahr gelingt. Mag also sein, dass die Löhne – vor allem für junge, gut Qualifizierte – steigen werden, statt zu sinken. Das würde aber dem Dumping-Argument der Kritiker widersprechen.
    Von Philip Faigle
    Mythos 3: Wenn noch mehr Einwanderer nach Deutschland kommen, sind die Christen bald in der Minderheit. Dabei bereiten uns Muslime jetzt schon Probleme.
    Was stimmt: Die Zahl der Muslime ist seit 1970 stark gestiegen. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung in Deutschland hat sich bis zum vergangenen Jahr fast vervierfacht. Dennoch leben heute laut Deutscher Islamkonferenz nur rund fünf Prozent Muslime in Deutschland. Selbst Bremen, das am meisten Muslime beherbergt (zehn Prozent), ist weit davon entfernt, mehrheitlich muslimisch zu werden. 
    Das Research Center's Forum on Religion & Public Life schätzt, dass sich der Anteil der Muslime in Deutschland in Zukunft leicht erhöhen wird – bis 2030 auf etwa sieben Prozent. 
    Das ist sehr hoch gegriffen. In den fünf Prozent enthalten sind nur die Menschen, die aus einem muslimischen Kulturkreis eingewandert sind. Gläubige Muslime sind nicht in Kirchen organisiert wie Christen und lassen sich deshalb schlechter zählen. Die Forschungsgruppe Weltanschauungen schätzt, dass höchstens 50 Prozent der offiziell gezählten Muslime wirklich gläubig sind
    Ein anderer Umstand könnte allerdings dazu führen, dass Christen in die Minderheit geraten: Die Zahl der Nichtgläubigen steigt. Während 1970 knapp vier Prozent der Deutschen ohne Konfession lebten, sind es heute je nach Schätzung zwischen 33 und 37 Prozent. Tendenz steigend. Beeinflussen könnten das wiederum nur mehr Zuwanderer. Denn die größte Gruppe der neuen Zuwanderer sind meistens Christen aus Mittel- und Osteuropa, allen voran katholische Polen. Wegen der Krise wandern viele Südeuropäer ein, auch wenn nicht klar ist, wie lange sie bleiben. Auch sie sind oft katholisch.
    Von Parvin Sadigh
    Mythos 4: Zuwanderer begehen mehr Verbrechen. Es wird  unsicherer im Land, wenn mehr Menschen kommen. 
    Eine populäre Lesart der Kriminalstatistik aus dem Jahr 2012 geht so: Jeder vierte Tatverdächtige in Deutschland hat keinen deutschen Pass, obwohl der Anteil der Ausländer an der deutschen Bevölkerung lediglich bei neun Prozent liegt. Stimmt es also nicht, wenn behauptet wird, dass Ausländer mehr Verbrechen begehen als Einheimische?
    Was die Statistik jedoch nicht sagt: Fast die Hälfte der Menschen mit Migrationshintergrund hat einen deutschen Pass – diese Menschen tauchen also in der Statistik als Deutsche auf. Gleichzeitig aber werden auch jene als Ausländer gezählt, die in Deutschland ein Verbrechen begehen, ohne hier zu wohnen: Touristen zum Beispiel, Geschäftsleute oder Menschen auf der Durchreise. Zu dieser Bevölkerungsgruppe zählen vor allem Mitglieder von kriminell organisierten Banden. Sie begehen Schätzungen zufolge rund ein Viertel bis ein Drittel aller von Ausländern begangenen Straftaten. Zudem gilt auch als ausländischer Straftäter, wer seine Tat vom Ausland aus begeht – etwa ein Cyberverbrechen über einen Computer.
    Wichtig ist auch ein Blick auf die Art der Verbrechen: Ob Ladendiebstahl, Mord, illegale Einreise oder Terroranschlag – in der Statistik stehen sie alle gleichrangig nebeneinander. Viele Straftaten – etwa gegen das Aufenthaltsgesetz oder das Asylverfahrensgesetz – können Einheimische aber gar nicht begehen. Oft werden außerdem nicht die Verurteilten, sondern nur die Tatverdächtigen gezählt. Somit könnte eine Erklärung für die höhere Zahl auch sein, dass Ausländer eher verdächtigt werden als Deutsche.
    Von Nicole Sagener
    Mythos 5: Es gibt genug Parallelgesellschaften in deutschen Städten. Kommen mehr Einwanderer, ist der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet.
    Jeder kennt die Straßenzüge in Berlin-Neukölln, Hamburg-Wilhelmsburg oder Duisburg-Marxloh: Straßen, in denen alle Läden türkisch sind und Frauen mit Kopftuch herumlaufen. Diese Bilder werden oft mit der Vorstellung verknüpft,  hinter den Wohnungs- und Moscheetüren habe sich eine autonome fremde Gesellschaft gebildet, die ihren eigenen Regeln folgt.
    Der Historiker Jochen Oltmer findet jedoch schon das Wort falsch. Parallelgesellschaft sei ein Kampfbegriff, sagt er. Meist seien damit nur türkische-muslimische Communitys gemeint. Die Elite, die in Dahlem oder Blankenese unter sich bleibt und deren Mitglieder sich gegenseitig Vorteile verschaffen, wird nicht so bezeichnet. Freiwillig ist die Konzentration der ungebildeten, armen Einwanderer in bestimmten Stadtteilen ohnehin nur bedingt. Sie brauchen bezahlbare Wohnungen. Und natürlich leben nicht nur Türken und Muslime in Neukölln. Eigene Schiedsgerichte oder Schulen gibt es sehr selten. Die meisten türkischstämmigen Einwanderer nutzen die deutschen Institutionen und arbeiten in deutschen Firmen.
    Tatsächlich aber nutzen Einwanderer soziale oder ethnische Netzwerke, denn es  nützt ihnen. Der Politikwissenschaftler Thomas Meyer spricht von einer "hilfreichen Schleusenfunktion". Bereits hier lebende Verwandte oder Freunde erklären, zu welcher Behörde die neu Eingewanderten gehen müssen, wie man eine Wohnung findet. Sie sprechen die gleiche Sprache und sorgen für ein wenig Geborgenheit in der Fremde. Oltmer sagt, diese Netzwerke seien charakteristisch für Migration, sogar verantwortlich für ihr Ausmaß. Man denke an Kolonien in New York wie Little Italy, Little Germany oder China Town.
    Nur wenn das Netz sehr groß ist, die Einwanderer einheitlich aus einer ungebildeten armen Schicht kommen und sie sich von der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert fühlen, kann das für sie zur Falle werden, sagt Meyer. Die neuen Migranten lernen nicht Deutsch, können ihren Kindern in der Schule nicht helfen, sie konsumieren nur türkischsprachige Medien. Eine Spirale entsteht, die die Einwanderer am Aufstieg und an der Integration in die Mehrheitsgesellschaft hindert. Wer arbeitslos ist, verkehrt nur noch mit Arbeitslosen, der Hilfsarbeiter mit Hilfsarbeitern.  
    Besteht also die Gefahr, dass sich neue Kolonien bilden? Neue Einwanderer in Deutschland kommen zu 60 Prozent aus europäischen Ländern. Polen, Rumänen und Bulgaren nutzen natürlich ihre Netzwerke. Spanische Studenten ziehen in eine WG mit befreundeten Spaniern. Doch diese Netze werden sich nicht zu sogenannten Parallelgesellschaften verfestigen. Die meisten der aktuellen Einwanderer sind gebildet – und "je höher der Bildungsgrad, desto größer ist die Tendenz, dass sich Kolonien wieder auflösen", sagt Oltmer. Auch die Gefahr, dass sich sogenannte Parallelgesellschaften von ungebildeten Bulgaren und Rumänen bilden, sei nicht sehr groß. Viele der Einwanderer bleiben nicht lange in Deutschland, sagt Oltmer, und sie sind zu wenige, um eigene Kolonien zu bilden.
    Von Parvin Sadigh

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  • Werden die Autos in der Zukunft alleine fahren? (Presseartikel aus der Zeitung "Stern"

    http://www.stern.de/auto/mobilitaet/selbstfahrende-autos-tempo-130-ohne-haende-am-lenkrad-2021418.html#utm_source=s


    Tempo 130 ohne Hände am Lenkrad

    Autos, die eigenständig lenken, bremsen und die Spur wechseln, sind keine Utopie mehr. Mehrere Autohersteller testen derzeit Geisterfahrzeuge. stern.de ist mitgefahren. Von Lutz Meier
    BMW, Google, Mercedes, S-Klasse, autonomes Fahren, fahrerloses Auto, führerloses Auto
    Hände weg vom Lenkrad! Die Testfahrer von BMW lassen das Fahrzeug eigenständig lenken - selbst auf der Autobahn. Der Fuß berührt weder Gas noch Bremse.© 
    Was für ein umsichtiger Fahrer! Dichter Verkehr auf der A9 von München nach Norden, der silberne BMW der Fünfer-Reihe hängt sich an den Vordermann, hält den Abstand, das Tempo. Vor einer Anschlussstelle Tempo-80-Schilder, einige hundert Meter vorher bremst der BMW sanft ab, setzt die Blinker. "Unser Auto hält sich jetzt an das Tempolimit", kommentiert Michael Aeberhard, der am Steuer sitzt. So präzis befolgt natürlich sonst niemand auf der A9 die Geschwindigkeitsbeschränkung. Unser BMW setzt die Blinker. "Alle anderen fahren schneller", sagt Aeberhard. "Also will unser Fahrzeug auf die rechte Spur wechseln."
    Aeberhard sitzt zwar am Steuer, aber er lenkt nicht. Er hat die Hände in den Schoß gelegt, die Füße berühren weder Gaspedal noch Bremse. Der BMW lenkt wie von Geisterhand gesteuert. Er quetscht sich nicht etwa zwischen zwei Autos, wie es ein menschlicher Fahrer vielleicht gemacht hätte. Er wartet eine Lücke ab, schert präzise aus und wechselt. Erst als das Tempolimit vorbei ist, beschleunigt das Auto wieder. Dann geht es mit 130 Stundenkilometern zurück auf die Überholspur.

    Auf der A9 bemerkt niemand das Geisterauto

    Seit zwei Jahren schon lässt BMW selbstlenkende Fünfer über die A9 kurven. München-Ingolstadt, 65 Kilometer, Spurwechsel, Bremsen, Stop-and-Go, es klappt wie am Schnürchen. "Sie können das praktisch nicht unterscheiden vom Fahrverhalten eines ganz normalen Fahrers", sagt Werner Huber, Forschungsleiter im Konzern. Abgesehen vielleicht davon, dass sich ein ganz normaler Fahrer niemals so akkurat an die Vorschriften halten würde.
    Fahrversuch auf der Autobahn
    Fahrversuch auf der Autobahn
    Fahrversuch auf der Autobahn
    Fahrversuch auf der Autobahn
    Fahrversuch auf der AutobahnSo fährt das fahrerlose Auto
    Geisterfahrzeuge auf deutschen Straßen: Das selbstfahrende Auto ist keine Utopie mehr. Mehr und mehr verlassen elektronisch gesteuerte Fahrzeuge die abgesperrten Forschungszentren und wagen sich in den öffentlichen Straßenverkehr - nicht erst seitdem Google im vergangenen Jahr Aufsehen erregte, als der Internetkonzern Tests mit seinem "autonomous car" im US-Bundesstaat Nevada genehmigt bekam.
    Eine ganze Reihe von Automobilherstellern und -zulieferern doktert seit Jahren schon automatischen Geisterlenksystemen herum. In Deutschland sind neben BMW unter anderem Mercedes und Audi aktiv, Zulieferer wie Continental (der einen Großteil der Technik für BMW liefert) sowie verschiedeneUniversitäten. Einige Hersteller bauen teilautonome Systeme bereits in Serienautos ein: Bei BMW gibt es eine Technik, die das Auto selbsttätig an den Straßenrand lenkt, wenn der Fahrer während der Fahrt ausfällt. Mercedes bietet im neuen Spitzenmodell S-Klasse, das im Sommer auf den Markt kommt, eine Technik, die im Stop-and-Go-Verkehr das Kommando übernimmt und ein System, das auf der Autobahn selbsttätig Lenkkorrekturen ausführt - allerdings muss der Fahrer in beiden Fällen die Hände am Lenkrad lassen.

    In fünf Jahren serienreif

    Technisch wäre noch viel mehr möglich: Wenn es nur nach den Forschern ginge, könnten die Hersteller schon bald auch serienreife völlig autonome Autos auf den Markt bringen. "Da sind wir in fünf bis zehn Jahren so weit, dass man da was einführen könnte", sagt Huber. Seit Google vorgeprescht ist, zeigen die Autohersteller jetzt viel bereitwilliger, wie weit gediehen ihre Entwicklungen bereits sind. Für sie ist es natürlich unerträglich, dass ihnen eine Internetfirma beim Auto der Zukunft öffentlichkeitswirksam die Butter vom Brot nimmt. "Wenn Sie mal so ein Google-Auto gesehen haben, dann sieht das etwa so aus wie eine Mondlandefähre", erregte sich Daimler-Chef Dieter Zetsche im Mai.
    Tatsächlich kurvt das Google-Geistermobil mit einem riesigen Gerätearsenal auf dem Dach über die Highways. Die BMW-Fünferflotte auf der A9 dagegen ist auf den ersten Blick von Serienmodellen kaum zu unterscheiden. Natürlich ist die Außenhaut der BMWs mit Radar- und Lichtsensoren gespickt, doch die sind gut versteckt. Aber gerade klassische Hersteller wie die Münchner, die mit dem Slogan "Freude am Fahren" werben, sehen sich in Erklärungsnot, warum ausgerechnet sie jetzt das Nicht-Mehr-Selbst-Fahren vorantreiben.
    Nicht jede Strecke gehe über eine kurvige Landstraße, wo man die Möglichkeiten seines BMWs herauskitzeln könnte, sagt Huber: Stadtfahrten, lange Autobahnstrecken, die immer gleiche Verbindung vom Büro zur Arbeit. Zudem fühlen sich die Münchner durch neuere Studien unter jungen Leuten gleichzeitig ermutigt und alarmiert. Die legen nahe, dass immer weniger Jüngere mit der Idee vom Spaß am Autofahren etwas anfangen können. Darüber hinaus bringen Befürworter des Selbstfahr-Autos weitere Argumente ins Spiel: Ein Großteil der Unfälle könnten vermieden werden, wenn Autos selbst lenkten, weil die Elektronik das zuverlässiger und rücksichtsvoller beherrsche, als der Mensch.

    Google schielt aufs Geschäft mit den Straßendaten

    Bis es soweit ist, muss aber noch einiges geschehen. "Die Strecke München-Ingolstadt können wir jetzt", sagt BMW-Forschungsleiter Huber. Die aber gleiche ein wenig Nevada - immer geradeaus. "Wir wollen mehr als Nevada", sagt er. "Tunnel, Mautstellen, Umleitungen, das sind die richtigen Gemeinheiten, auf die wir uns einstellen müssen". Immerhin könne sich der Geister-BMW mittlerweile allein auf die Autobahn einfädeln.
    Bevor der Konzern mit seinen Tests begonnen hat, hat er die Strecke auf der A9 zentimetergenau dreidimensional vermessen - ein solcher Datenbestand müsste für das gesamte Straßennetz vorliegen, um selbstfahrende Fahrzeuge darüber zu schicken. Aus diesem Umstand ergibt sich auch das Interesse des Datenkonzerns Google an dem Thema. Bislang funktioniert die Technik zudem nur bei guten Sichtverhältnissen. Nachtfahrten sind zwar kein Problem, aber den heftigen Regen der letzten Wochen nahmen die Sensoren der Autos teilweise als riesige umherfliegende Gegenstände wahr.
    In Michael Aeberhardts Test-BMW ist vorn ein zusätzlicher Bildschirm angebracht, der die Hindernisse zeigt, wie sie die Sensoren sehen: Alles blaue Quader, ob Leitplanke, ob Fremdfahrzeug. Immer noch feilen die Ingenieure daran, dass die Technik Objekte genauer unterscheiden kann. Schneller als 130 Stundenkilometer würde Huber derzeit kein selbstfahrendes Auto auf die Straße schicken. "Sonst würden wir das Fahrzeug nicht mehr sicher zum Stehen bringen können, wenn etwa in Lkw quer auf der Autobahn steht."
    Trotz aller Beschränkungen: Die Haupthindernisse, die der Verwirklichung der Utopie noch im Weg stehen, sind nicht technischer sondern rechtlicher Natur. "Jedes sich bewegende Vehikel muss einen Fahrer haben." So steht es im international gültigen Wiener Übereinkommen über den Straßenverkehrund ähnlich auch in den Straßenverkehrsgesetzen der meisten Länder. Unzählige Fragen sind ungeklärt: Wer ist schuld, wenn es zum Unfall kommt? Wie sieht es versicherungsrechtlich aus? Huber sagt, BMW mache die Versuche auch deshalb, "damit wir den Behörden ein bisschen die Angst vor der Technik nehmen können".

    Beim ersten Mal war ihm noch mulmig zumute

    Die BMW-Fahrzeuge sind als Testfahrzeuge genehmigt, der Konzern muss dafür sorgen, dass der Mann auf dem Fahrersitz jederzeit eingreifen kann. Aeberhard überlässt dem BMW inzwischen routiniert und vertrauensvoll das Steuer. Er verfolgt die Quader auf dem Schirm, hält die Hände im Schoß. Beim ersten Mal war ihm noch etwas mulmig. "Es war nicht gerade Angst – aber ich war hochkonzentriert und schon ein bisschen aufgeregt," sagt er.
    Jetzt übernimmt er nur noch das Steuer, wenn der Fünfer bei Garching die Autobahn verlassen muss und zurück auf das BMW-Gelände rollt. Ein anderes Fahrzeug blockiert die Einfahrt, Aeberhard muss dreimal hin und herrangieren, um vorbeizukommen. Aufgeregt piept der Parksensor. Was für eine umständliche Kurbelei!
    © 2013 stern.de GmbH

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  •  Das Loreleylied

    1823  Heinrich Heine 


    Ich weiß nicht, was soll es bedeuten(1),
    Dass ich so traurig bin (2);
    Ein Märchen aus uralten Zeiten(3),
    Das kommt mir nicht aus dem Sinn(4).

    Die Luft (5) ist kühl und es dunkelt,
    Und ruhig fließt der Rhein;
    Der Gipfel des Berges funkelt
    Im Abendsonnenschein.

    Die schönste Jungfrau sitzet
    Dort oben wunderbar,
    Ihr goldenes(6) Geschmeide(7) blitzet,
    Sie kämmt ihr goldenes Haar.

    Sie kämmt es mit goldenem Kamme
    Und singt ein Lied(8) dabei;
    Das hat eine wundersame,
    Gewaltige Melodei.

    Den Schiffer(9), im kleinen Schiffe,
    Ergreift es mit wildem Weh(10);
    Er schaut nicht die Felsenriffe(11),
    Er schaut nur hinauf in die Höh´.
    Ich glaube(12), die Wellen verschlingen(13)
    Am Ende Schiffer und Kahn;
    Und das hat mit ihrem Singen
    Die Lore-Ley getan.


    1 bedeuten - signifier
    2 Cette tristesse sans raison apparente est un des sujets de prédilection des Romantiques : le spleen, la nostalgie (die Sehnsucht).
    3 aus uralten Zeiten – un conte de fée datant de temps très anciens  Mais en fait, la légende de la « Lore Lay » avait été inventée par Clemens BRENTANO tout juste 20 ans auparavant. HEINE se moque donc de l’intérêt des poètes romantiques pour les contes anciens. Dans le poème de BRENTANO, Loreley exerce un charme sur tous les hommes et les séduit grâce à sa beauté. Même l’archevêque qui doit la ramener sur le droit chemin, lui succombe. Il ordonne que Loreley soit amenée dans un monastère pour rompre la malédiction de son charme irrésistible et dévastateur qui selon les gens, est dû à un amour malheureux. En effet, Loreley reconnaît dans l’archevêque son amour d’antan mais il appartient maintenant à l’église. Elle se jette de la falaise dans le Rhin.
    http://www.loreley.de/loreley/loreley.htm
    4 ne veut pas sortir de mon esprit
    5 die Luft – l’air
    6 golden – un des mots favoris des Romantiques : HEINE se moque d’eux en l’utilisant à outrance …
    7 ses parures en or brillent dans la lumière du soleil couchant
    8 das Lied – la chanson  est devenu un genre musical, « le lied » ( voir les Lieder de Schubert, comme « La truite » ou « Le roi des aulnes ».)
    9 das Schiff – le bateau der Schiffer – le batelier
    10 das Weh = der Schmerz – la douleur
    11 die Felsenriffe – les récifs
    12 ich glaube … : HEINE se moque encore. Comment pourrait-il ne pas se rappeler la fin si dramatique de ce conte ?
    13 les vagues engloutissent le batelier et son bateau

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  • ·        
    Die Meistererzählung von der deutsch-französischen "Versöhnung", ein Artikel von Corine Defrance, 19.12.2012
     
    Nachdem der Europäischen Union 2012 der Friedensnobelpreis für ihren Beitrag zu Frieden, Versöhnung und Demokratie auf dem Kontinent zugesprochen worden ist, sollte noch einmal nach dem Versöhnungsprozess gefragt werden, der dieses Europa erst ermöglicht hat und durch dessen Entstehung er noch gefestigt wurde. Die deutsch-französische Annäherung steht historisch betrachtet im Zentrum dieser beiden miteinander verschränkten Entwicklungen, und es ist gewiss kein Zufall, dass die EU den Nobelpreis mitten im "Deutsch-Französischen Jahr" 2012/2013 erhalten hat, in dem Franzosen und Deutsche offiziell den 50. Jahrestag des Élysée-Vertrags, ihrer "Versöhnung" und "Freundschaft" feiern. <o:p></o:p>
     
    Wenngleich die Stationen, Akteure und Ausdrucksformen dieser Annäherung heute hinlänglich bekannt sind, bleibt doch nach dem Aufbau des Versöhnungsnarrativs zu fragen. Wer waren die "Autoren", welches die Strukturen und Ziele, die Grenzen, ja die Gefahren? Längst ist die Aussöhnung im Diskurs über die deutsch-französischen Beziehungen unerlässlich geworden; doch sie läuft Gefahr, sich zu einem Störfaktor zu entwickeln - so sehr wird diese "Erfolgsgeschichte", dieser neue Mythos der "Erbfreunde" zuweilen als Modell und einer der besten Exportartikel der deutsch-französischen Geschichte herausgestellt. Selbst der deutsch-französische Politikwissenschaftler Alfred Grosser, der sich gegen den Begriff der Versöhnung sträubt, erinnert daran, "dass wir ein Vorbild abgeben" für andere verfeindete Volksgruppen.[1] 
     
    Trotz der realen Grundlagen der Annäherung, der Verständigung und der Kooperation ist die deutsch-französische Versöhnung ein Mythos, insofern als sie eine erzählerische Fiktion ist, eine "Meistererzählung", welche die Wirklichkeit inszeniert. Sie ist zum einen ein Konstrukt, das bei der Auflösung des alten und antagonistischen Mythos vom "Erbfeind" ansetzt.[2] Zum anderen ist sie sehr zeitgenössisch und beruht auf einem Epos und symbolischen Orten. Zudem ist sie sinnstiftend, soll die "Versöhnung" nach dem absoluten Tiefpunkt von Gewalt und Verbrechen doch den Beginn einer neuen europäischen, von Friedenskonsolidierung geprägten Ordnung markieren. Und schließlich ist sie symbolträchtig, gab es doch einen historischen Präzedenzfall: die Aussöhnung in der Zwischenkriegszeit. 1926 erhielten die Außenminister Aristide Briand und Gustav Stresemann für ihre Verdienste um die Unterzeichnung der Verträge von Locarno und die deutsch-französische Aussöhnung gemeinsam den Friedensnobelpreis. Der Ausgang ist bekannt. Wie also war es nach dem Zweiten Weltkrieg möglich, eine neue Versöhnungsgeschichte zu schreiben, die den Fehlschlag der Zwischenkriegsjahre vergessen ließ? 
     
    Nach einer Analyse der Konstruktion der Versöhnungsgeschichte und ihrer heutigen Ausdrucksformen werde ich im Folgenden verschiedene Versuche darstellen, den Versöhnungsmythos zu dekonstruieren. Sie belegen eine Form von Verdrossenheit gegenüber einem institutionalisierten Diskurs. Es stellt sich schließlich die Frage, wie die Symbolik der deutsch-französischen Aussöhnung erneuert werden kann.
     
     
    Mythenbildung mit dem Élysée-Vertrag im Zentrum
     
     
    Kurz bevor der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy am 28. Oktober 2009 Bundeskanzlerin Angela Merkel in Paris zu den Gedenkfeierlichkeiten zum Tag des Waffenstillstandes am 11. November 1918 empfing, erklärte er, künftig "einen Tag der deutsch-französischen Aussöhnung, Verständigung und des deutsch-französischen Projektes zum Aufbau einer gemeinsamen Zukunft" begehen zu wollen.[3] Das Datum, das der Präsident wählte, überraschte. Denn seit den Festlichkeiten zum 40. Jahrestag des Élysée-Vertrags gibt es einen offiziellen "Deutsch-Französischen Tag": den 22. Januar - der Tag, an dem 1963 im "Salon Murat" des Élysée-Palasts der Vertrag unterzeichnet wurde. <o:p></o:p>
     
    Seinen größten symbolischen Ausdruck fand der Versöhnungsmythos bislang in der 40-Jahr-Feier des Vertrags am 22. Januar 2003 in Versailles - so wie Gedenkfeiern überhaupt einen wesentlichen Anteil an der Entwicklung nationaler, wenn nicht gar grenzüberschreitender Mythen haben. Nach einer Phase politischer Turbulenzen nahmen die Verantwortlichen in Frankreich und Deutschland den Jahrestag zum Anlass, vor dem Hintergrund der drohenden US-Militärintervention im Irak ihre neue Solidarität zur Schau zu stellen. Die Inszenierung dieses Tages - die Wahl der Akteure und des Ortes, der protokollarische Ablauf, der Inhalt der Reden - war der Höhepunkt einer Erzählung, die zu Beginn der 1960er Jahre ihren Anfang genommen hatte. <o:p></o:p>
     
    Die Gedenkfeier zum 40. Jahrestag bot die Chance, die Zusammenarbeit zwischen den Parlamentariern als Volksvertreter zu betonen. Eingangs erklärten sie: "Die deutschen und französischen Abgeordneten würdigen General de Gaulle und Kanzler Konrad Adenauer, die die historische Chance einer deutsch-französischen Aussöhnung als unverzichtbare Etappe auf dem Weg zu einem vereinten Europa ergriffen haben."[4] Die beiden Präsidenten von Bundestag und Nationalversammlung, Wolfgang Thierse und Jean-Louis Debré, sprachen zwar ebenso wie Staatspräsident Jacques Chirac und Kanzler Gerhard Schröder von "Versöhnung", aber mit unterschiedlichem Tenor. <o:p></o:p>
     
    Folgte man den beiden Franzosen, gründete die Aussöhnung auf dem Willen de Gaulles und Adenauers und begann mit der Vertragsunterzeichnung 1963; Thierse und Schröder hingegen nahmen auch Bezug auf Robert Schuman, Jean Monnet und die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Der Aussöhnungsprozess habe demnach schon zu Beginn der 1950er Jahre begonnen und sich nicht auf die Ebene der Staats- und Regierungschefs beschränkt: Thierse dankte ausdrücklich den Akteuren der Zivilgesellschaft; Schröder führte eine große Zahl von Mittlern der deutsch-französischen Beziehungen an und würdigte die Arbeit "von unten", indem er die Städtepartnerschaften und den Jugendaustausch hervorhob, die "schon vor dem Élysée-Vertrag existierten". Die deutschen Politiker unterstrichen, wie sehr sich die verschiedenen Akteure der - staatlichen und gesellschaftlichen - bilateralen Beziehungen ergänzten. <o:p></o:p>
     
    Alle Redner setzten sich mit der Wahl von Versailles als Ort der Feierlichkeiten zum Jahrestag des Élysée-Vertrags auseinander. Präsident Chirac wies ausdrücklich auf den zweifachen historischen Bezugspunkt hin - die Ausrufung des Deutschen Kaiserreichs 1871 und den Friedensvertrag von Versailles 1919: "Fortan symbolisiert Versailles (...) die Verbundenheit zwischen Deutschland und Frankreich und, darüber hinaus, unseres gesamten Kontinents." Auf diese Weise wurde der Ort der doppelten Erinnerung - Symbol einer zweifachen Demütigung und Quelle des Hasses - zu einem gemeinsamen, positiven Ort umgewidmet.[5] Der Wandel der Erinnerung war vollzogen. Auch Schröder interpretierte Versailles als Symbol für die Zukunft und als Ausdruck grundlegender Werte: "Versailles, das ist auch der Ort, der in unserer Erinnerung stets mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 verbunden bleiben wird" - Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als "das Fundament und Modell" des aufzubauenden Europas.<o:p></o:p>
     
    Etappen der Mythenbildung<o:p></o:p>
    Auch wenn der Élysée-Vertrag gemeinhin als "Versöhnungsvertrag" bezeichnet wird, handelt es sich doch offiziell um einen "Kooperationsvertrag". Der Begriff der "Versöhnung" (réconciliation) taucht darin nicht auf und wird nur ein einziges Mal in der gemeinsamen Erklärung von de Gaulle und Adenauer erwähnt. Ohnehin war der Begriff zu Beginn der 1960er Jahre noch nicht sehr verbreitet. Er wurde in den 1950er Jahren zwar von zivilgesellschaftlichen Akteuren verwendet, kam in der Diplomatensprache aber erst gegen Ende der 1950er Jahre auf.[6] <o:p></o:p>
     
    Am 22. Januar 1963 unterzeichneten de Gaulle und Adenauer den Élysée-Vertrag und umarmten sich vor Mitgliedern ihrer Regierungen und einigen Fotografen. Hier endete die Inszenierung. Einige Monate zuvor, im Juli und September 1962, hatten die beiden gegenseitigen Staatsbesuche jedoch Gelegenheit für beeindruckende Symbolpolitik geboten. Mit der Messe in der Kathedrale von Reims, so de Gaulle, hätten Adenauer und er am 8. Juli "die Versöhnung besiegelt" ("sceller la réconciliation") - ein Satz, den er in eine marmorne Bodenplatte auf dem Vorplatz der Kathedrale eingravieren ließ. Zum 50. Jahrestag des Treffens im Juli 2012 wurde gar eine zweite Tafel mit der deutschen Übersetzung von de Gaulles Worten enthüllt. Auch unter dem neuen Tandem Merkel-Hollande bleibt die Versöhnung somit in die deutsch-französischen Feierlichkeiten "in Stein gemeißelt". <o:p></o:p>
     
    Dem Vertragsschluss war also zu Beginn der 1960er Jahre eine politische Inszenierung vorausgegangen, galt es doch, Emotionen zu wecken und sich der Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zu versichern, um sich in diesem Sinne zu binden. Der Festakt am 22. Januar 1963 war, verglichen mit dem von Reims im Juli 1962, von großer Nüchternheit. Dies ist zweifelsohne darauf zurückzuführen, dass das Dokument lange Zeit nur ein Protokoll sein sollte und seine Unterzeichnung teilweise improvisiert war.[7] Zudem ging es darum, Parallelen zwischen den Verträgen von Locarno und dem Élysée-Vertrag zu vermeiden, aber auch zwischen dem Tandem Briand-Stresemann, das in den Köpfen immer noch sehr präsent war, und de Gaulle und Adenauer. Auch in seinen Memoiren bezog sich Charles de Gaulle später nur ein einziges Mal auf Aristide Briand und ging auf Stresemann gar nicht ein; Adenauer nannte Briand und Stresemann in seinen Erinnerungen ebenfalls nur einmal: Im Verlauf eines im August 1954 mit (dem französischen Ministerpräsidenten) Pierre Mendès France geführten Gespräches über die ungewisse Zukunft der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft merkte er an, dass einige ein Scheitern gewiss in die Kette der misslungenen Annäherungsversuche seit Briand und Stresemann einreihen würden.[8] <o:p></o:p>
     
    Nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags verbreitete sich der Begriff der "Versöhnung" immer weiter. Aber erst mit dem zehnten Jahrestag nahm der Mythos in Frankreich allmählich seine bekannte Gestalt an: dass nämlich alles mit de Gaulle und Adenauer begonnen habe und die deutsch-französischen Beziehungen seit 1963 ausgezeichnet seien. <o:p></o:p>
     
    Eine neue Dynamik erhielt die Versöhnungssymbolik, als sich François Mitterrand und Helmut Kohl am 22. September 1984 vor dem Beinhaus von Douaumont die Hände reichten und - in meisterhafter Inszenierung - eine gemeinsame Erinnerung an den Grande Guerre, den Ersten Weltkrieg, schufen;[9] das Bild ging um die Welt. Die beiden Staatsmänner zeigten, dass ihre Länder sich von nun an der gemeinsamen schmerzhaften Vergangenheit stellen konnten - und dass die Erinnerung an diese Vergangenheit, die beide Seiten lange Zeit entzweit hatte, im Begriff war, zu einer gemeinsamen Erinnerung zu werden, die sie verbindet.<o:p></o:p>
     
    Versöhnung und Erinnerung: Welcher Geschichte gedenken?<o:p></o:p>
    Bis zum Zeitpunkt des Festakts in Versailles im Jahre 2003 waren Reims und Verdun die zwei zentralen Orte in der Geschichte der Beziehungen beider Länder. Beide Städte waren mit Karl dem Großen verbunden und erinnerten an die deutsch-französische Feindschaft im 19. und 20. Jahrhundert: Reims war während des deutsch-französischen Krieges von 1870/1871 besetzt und im Ersten Weltkrieg zur Märtyrer-Stadt geworden; Verdun war das Sinnbild des Grande Guerre und der Leidensgemeinschaft. Beide Völker, die einander geschichtlich eng verbunden waren, hatten sich gegenseitig auch verwundet, und so ging es den staatlichen Repräsentanten darum, die Erinnerungen des einstigen Gegners und seine Erinnerungsorte zu würdigen und auf diese Weise die Grenzen der Nationalgeschichten zu überwinden.[10] Der Erste Weltkrieg wurde allmählich zu einem Knotenpunkt der "gemeinsamen Geschichte". <o:p></o:p>
     
    Nicolas Sarkozy und Angela Merkel sind dem von ihren Vorgängern eingeschlagenen Weg gefolgt, wenn sie auch einen anderen Ort wählten und am 11. November 2009 am Grab des unbekannten Soldaten unter dem Triumphbogen in Paris zusammenkamen. Indes war es das erste Mal, dass ein(e) deutsche(r) Regierungschef(in) an der Gedenkfeier zum Tag des Waffenstillstandes teilnahm. Zwar hatte Chirac 1998 Schröder eingeladen, ihn zu begleiten; der Bundeskanzler hatte die Einladung aber ausgeschlagen. Anders als Verdun, das sich 1984 als Ort für eine gemeinsame Totenehrung eignete, standen der 11. November und das Grab des unbekannten Soldaten am Triumphbogen für den Sieg der Alliierten und Frankreichs und die Niederlage Deutschlands; zwei einander zuwiderlaufende Erinnerungen - trotz der Gedenkfeiern zum Ende der Kämpfe. <o:p></o:p>
     
    Wenngleich zum Ersten Weltkrieg wegen der gemeinsamen Verantwortung der Mächte seit beinahe 30 Jahren ein gemeinsames Gedenken möglich ist, scheinen doch die Wunden der Erinnerung an die Dramatik und Asymmetrie der Kriegsereignisse lange Zeit verschwiegen worden zu sein, um eine Annäherung beider Länder nicht zu behindern. Versöhnung setzt also Reue und eine Form von Vergebung voraus. <o:p></o:p>
     
    De Gaulles Bereitschaft zu verzeihen, entsprach seiner Vorstellung von einer asymmetrischen Beziehung, auf der seine Deutschland-Politik beruhte. Anfang 1960 vertraute der General seinem Minister Alain Peyrefitte an: "Es gibt keinen außer mir, der Frankreich und Deutschland versöhnen könnte, da nur ich Deutschland aus seiner Schande wieder aufrichten kann."[11] Die Aussöhnung ist also ein Prozess, der verschiedene Stationen durchläuft, und eine Abstufung in der Fülle von Erinnerungsmöglichkeiten. <o:p></o:p>
     
    Der Zweite Weltkrieg wurde zunächst nur andeutungsweise und in "steriler" Weise in das offizielle Gedenken eingeschrieben. Selbst die Wahl von Reims als Ort für das Treffen von 1962 verwies auf die bedingungslose Kapitulation Nazideutschlands. 22 Jahre später, in Verdun, bezogen Kohl und Mitterrand auch die gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkrieges in die Ehrung ein. Doch der Ort war so untrennbar mit dem Ersten Weltkrieg verbunden, dass diese Botschaft kein Gehör fand. Den Wendepunkt in der offiziellen Gedenkpolitik markierten fraglos die Feiern zum 60. Jahrestag der Landung der Alliierten in Caen im Juni 2004, bei denen Bundeskanzler Schröder an der Seite des französischen Präsidenten Chirac saß. Allerdings blieben bei diesem gemeinsamen Gedenken die schmerzhaftesten Kapitel des Zweiten Weltkriegs wie das Massaker von Oradour-sur-Glane vom 10. Juni 1944 oder die Deportationen in die Konzentrations- und Vernichtungslager ausgespart. <o:p></o:p>
     
    Fußt die Versöhnung also auf Vergessen? Die Antwort ist kompliziert und hängt auch davon ab, wer sich erinnert. Sicher waren die Regierenden der Ansicht, dass die Rückbesinnung auf die dunkelsten Seiten der Geschichte den Aufbau einer engen Kooperation stören könnte, und sie haben es daher über viele Jahre hinweg vermieden, die Vergangenheit öffentlich zu thematisieren.[12] Gleichwohl haben Paris und Bonn nach langen, harten Verhandlungen im Juli 1960 - also noch vor der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags - ein Wiedergutmachungsabkommen für die französischen Opfer des Nationalsozialismus geschlossen.[13] Die Anerkennung der Leiden der Opfer war Ende der 1950er und in den 1960er Jahre jedoch begleitet von einer wachsenden Nachsicht der französischen Justiz gegenüber deutschen Kriegsverbrechern, die ihre Taten in Frankreich verübt hatten.[14] Lange Zeit waren es in erster Linie ehemalige Résistance-Mitglieder und Überlebende der Lager, die dazu beitrugen, eine Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus und später die Verfolgung von NS-Verbrechern vor deutschen und französischen Gerichten durchzusetzen. Mit den Prozessen gegen Klaus Barbie (1986), Paul Touvier (1994) und Maurice Papon (1998) kehrte an der Wende von den 1980er zu den 1990er Jahren die Erinnerung an die dunklen Jahre der Besatzung mit den Schrecken des NS-Terrors, der Miliz und der Kollaboration zurück. Die Verbrechen der Vergangenheit waren durch die "Aussöhnung" also nicht in Vergessenheit geraten. <o:p></o:p>
     
    Offensichtlich muss unterschieden werden zwischen der offiziellen Erinnerung, die von den Regierenden getragen wird, und den lebendigen Erinnerungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen: von Mitgliedern der Résistance, von deportierten Juden, Zwangsarbeitern, Veteranen und anderen. Diese Gruppen haben wesentlich dazu beigetragen, dass die schmerzliche Vergangenheit in den Medien thematisiert wurde, die Justiz sich ihrer annahm und sie nach und nach Aufnahme in die offizielle Meistererzählung fand. Dazu beigetragen haben auch französische und deutsche Historiker, die seit Kriegsende Geschichtsunterricht und Lehrbücher überprüften; die Erinnerung wurde aber auch durch das Kino oder die Literatur transportiert. Die Gewalt und die Leiden der Kriegsjahre sind nicht vergessen worden. Es ist diese Kluft zwischen der Vielzahl und der Komplexität der kollektiven Erinnerungen und dem eindimensionalen, belehrenden offiziellen Gedächtnis, die dazu geführt hat, dass der Versöhnungsmythos heute infrage gestellt wird.<o:p></o:p>
     
    Herausforderung des Versöhnungsmythos<o:p></o:p>
    Der Historiker Joseph Rovan hat den Zweiten Weltkrieg als einen europäischen Bürgerkrieg interpretiert und nicht als einen Krieg von Nationen, die (in diesem Fall Frankreich und Deutschland) einander feindlich gegenüberstehen[15] - eine Interpretation, die von Nicolas Sarkozy in seiner Rede vom 11. November 2009 übernommen wurde.[16] Rovan betonte, wie wichtig die Erfahrungen der deportierten Résistance-Kämpfer in den Konzentrationslagern seien, um zu verstehen, dass die ersten Opfer des nationalsozialistischen Regimes deutsche Demokraten gewesen waren. Nach einer solchen Auseinandersetzung konnte die Versöhnung nicht im nationalen Rahmen erfolgen. Alfred Grosser teilte Rovans Standpunkt und seine Argumentation. Diesen beiden Franzosen deutscher Herkunft, deren Familien vor dem Nationalsozialismus geflohen waren, ging es nicht um Versöhnung, sondern um Gerechtigkeit, Verstehen und Mitverantwortung. Grosser fasste das Handeln all der Wegbereiter einer Politik der ausgestreckten Hand in der unmittelbaren Nachkriegszeit so zusammen: "Wir stützten uns nicht auf eine Versöhnungsutopie. Wir glaubten, dass eine Verwirklichung von Moral nicht wirkungslos wäre."[17] <o:p></o:p>
     
    Auch Historiker und Vertreter der Zivilgesellschaft, die in der deutsch-französischen Zusammenarbeit engagiert sind, üben seit Langem Kritik am Mythos der deutsch-französischen Versöhnung, die 1963 mit der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages begonnen habe. Denn diese Interpretation überdeckt die Arbeit, die von der Zivilgesellschaft bereits in den Jahren zwischen Kriegsende und Vertragsunterzeichnung geleistet worden ist. Die historische Forschung hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt mit den Initiativen befasst, die von der Zivilgesellschaft ausgingen und die eine wesentliche Rolle - ja häufig eine Vorreiterrolle - im Prozess der deutsch-französischen Annäherung gespielt haben.[18] <o:p></o:p>
     
    Wenn der frühere Präsident der Fédération des Associations Franco-Allemandes pour l'Europe (FAFA) den öffentlichen Diskurs beharrlich kritisierte, tat er dies also durchaus berechtigt. Er riskierte dabei allerdings, einen neuen "versöhnlerischen" Mythos zu schaffen: "Diejenigen, die - ob unwissentlich oder wissentlich - die deutsch-französische Kooperation mit dem Élysée-Vertrag 1963 höher einstuften, haben sich nicht nur im Datum vertan: Sie verfälschten auch den tiefen Willen zur Versöhnung und Freundschaft, der seit dem Kriegsende 1945 von beiden Völkern geäußert wurde, die sich gegenseitig als Opfer des gleichen verbrecherischen Wahnsinns erkannt hatten."[19] Damit überschätzte er den Wunsch nach Versöhnung in der unmittelbaren Nachkriegszeit jedoch erheblich und kam zu einem in der Nachschau allzu optimistischen Urteil. 1945 ging es nicht um "Versöhnung", sondern um Verstehen und unter Umständen um Annäherung. Es ist daran zu erinnern, dass das Bild des Nachbarn in der öffentlichen Meinung niemals zuvor so negativ war wie 1945.<o:p></o:p>
     
    Kritik an "privilegierten" deutsch-französischen Beziehungen<o:p></o:p>
    Peter Sloterdijks "Bemerkungen zu den deutsch-französischen Beziehungen"[20] sind aus dem Blickwinkel derjenigen geschrieben, die im heutigen Europa eine Normalisierung, ja eine Banalisierung der deutsch-französischen Beziehungen erkennen wollen - ein Schluss, zu dem kürzlich auch der französische Historiker Pierre Nora kam.[21] Indem er die beiden vergangenen Jahrhunderte seit Napoleon umspannt, möchte Sloterdijk zeigen, wie Frankreich und Deutschland - ermüdet von der Maßlosigkeit ihrer Auseinandersetzung - der Leidenschaft entsagen wollten. Durch Gleichgültigkeit hätten beide Länder den Weg der Befriedung finden wollen. So interpretiert er das Treffen zwischen de Gaulle und Adenauer in Reims 1962 als den Moment der einvernehmlichen Scheidung zwischen beiden Ländern. Der Philosoph beschwört eine endgültige Entfremdung und ein gegenseitiges Unverständnis herauf, sowohl in kultureller als auch in psychopolitischer Hinsicht, diplomatisch verschleiert durch die Freundschaft zwischen den Völkern. <o:p></o:p>
     
    Seit den 1980er Jahren scheint ein gewisses freundschaftliches Desinteresse in Bezug auf die jeweils andere Gesellschaft heraufzuziehen. Allerdings haben sich beide Gesellschaften seit der unmittelbaren Nachkriegszeit einander stark angenähert: Die Beziehungen und der Austausch waren noch nie so vielschichtig; das Bild des Nachbarn ist positiv und spiegelt gegenseitiges Vertrauen und eine große Übereinstimmung der Werte wider. Um seinen Standpunkt zu rechtfertigen, ist Sloterdijk gezwungen, diese Entwicklung zu ignorieren - doch seine bewusst provokante These veranschaulicht gleichwohl die wachsende Distanz, hervorgerufen durch das Überengagement von Politikern und Mittlern und die Selbstbeweihräucherung in den deutsch-französischen Beziehungen. <o:p></o:p>
     
    Wenngleich de Gaulle und Adenauer ihre Inszenierung der Aussöhnung in Reims gelungen ist und Kohl und Mitterrand sie in Verdun erfolgreich erneuert haben, stellt die Aufrechterhaltung der Erinnerung an die Versöhnung doch stets eine neue Herausforderung dar. Die Kritik ist im Laufe der Jahre lauter geworden, weil der Versöhnungsmythos mit Blick auf Adenauer, de Gaulle und den Élysée-Vertrag zu einem Dogma zu werden beginnt. Im Januar 2003 hat Bundeskanzler Schröder begonnen, den Faden der Versöhnungsgeschichte fortzuspinnen, indem er andere Darstellungen einbezog, insbesondere die der zivilgesellschaftlichen Akteure. Er versuchte auch, wieder mehr Emotionen zu wecken, indem er persönliche Erinnerungen zur Sprache brachte und einige Verse aus dem Chanson "Göttingen" zitierte - einem Sinnbild der bilateralen Beziehungen von der Sängerin Barbara aus dem Jahre 1964. <o:p></o:p>
     
    Mit seinem Vorschlag, den 11. November - neben oder anstelle des 22. Januar - zum Tag der deutsch-französischen Versöhnung zu machen, versuchte Präsident Sarkozy im Herbst 2009 den Bezug zum Élysée-Vertrag von 1963 zu lösen und so den Versöhnungsmythos neu zu begründen. Es fragt sich nur, ob der Drang, einen Erinnerungsbruch herbeizuführen, nicht am Ende die Geschichte verwischt. Ein gemeinsames Gedenken an einem Tag der Versöhnung hätte die Gefahr heraufbeschworen, dass die Erinnerung den Blick auf die Geschichte verstellt. So ist es nicht verwunderlich, dass das Projekt aufgegeben wurde. Es darf mit Spannung erwartet werden, wie Angela Merkel und François Hollande den Festakt zum 50. Jahrestag des Vertragsschlusses begleiten werden.<o:p></o:p>
     
    Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden: by-nc-nd/3.0/de/ Autor: Corine Defrance für bpb.de 

     

     

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